- Porträt: Inszenierung der Persönlichkeit
- Porträt: Inszenierung der PersönlichkeitDas 16. Jahrhundert gilt als die Blütezeit des Porträts: Tizians Bildnis eines Mannes in Halbfigur von etwa 1510 dokumentiert das Selbstverständnis eines modernen Menschen, der sich in Haltung, Gestik und Mimik so präsentiert, wie er sich selbst sieht und gesehen werden will. Die berühmten Porträts dieser Zeit - Bilder von Raffael, Leonardo da Vinci, Tizian, Dürer oder Hans Holbein dem Jüngeren - überliefern ein neues, durch die Entwicklung der Wissenschaften, durch Philosophie und Literatur geprägtes Bewusstsein. Ihre Inszenierung der Persönlichkeit, die vom Modell beabsichtigt war und vom Künstler mit den Mitteln seiner Bildsprache umgesetzt wurde, entspricht den Forderungen, die noch heute an ein Porträt gestellt werden: Abgebildet wird ein Mensch mit allen typischen Merkmalen seines Aussehens und seines Charakters zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens, damit sein Bild den Zeitgenossen und der Nachwelt über seinen Tod hinaus erhalten bleibe. Wesenszüge wie Machtbewusstsein und Selbstdarstellung, aber auch Melancholie und Selbstreflexion lassen sich an diesen Gesichtern ablesen. Sie bestätigen, dass die »Erfindung« des neuzeitlichen Bildnisses in der Zeitenwende der Renaissance anzusiedeln ist.Der Begriff »Porträt« - »portrait« im Französischen, »ritratto« im Italienischen - ist jedoch älter als das, was heute darunter verstanden wird: die bildnerische Wiedergabe eines identifizierbaren Menschen in einem Gemälde, einer Zeichnung oder einer Skulptur. Obwohl bereits das mittelalterliche »Konterfei« einen Bezug zwischen Abbild und Modell herstellt, entstand die Idee, einen Menschen in einem Bild in seiner Identität zu erfassen, erst im 15. Jahrhundert. Dieses Phänomen ist Ausdruck der Emanzipation und Bewusstwerdung des Einzelnen, eingebettet in Umbrüche der politischen, sozialen und geistigen Verhältnisse. Zugleich aber sind die Porträts auch Produkte einer ins Mittelalter und bis ins Altertum zurückreichenden Tradition.Die Wurzeln der neuzeitlichen Porträtmalerei liegen in der Antike, deren Wiederentdeckung die italienischen Künstler des 15. und 16. Jahrhunderts zur Nachahmung anregte. Die seit der griechischen Klassik geübte Praxis, verdienstvollen Männern öffentliche Ehrenstatuen zu errichten, brachte bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. ganzfigurige, idealisierte Porträtstatuen lebender oder verstorbener Personen hervor. Die Römer bevorzugten dagegen die skulptierte Büste, deren auf Kopf und Schulteransatz beschränkte Form die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Physiognomie konzentrierte. In diesen Gesichtern entwickelte sich ein detaillierter Realismus, eine schonungslose Wiedergabe aller Merkmale des Alters, der Hässlichkeit und Deformation, mit der das Modell behaftet war. Vorbilder waren vermutlich die Totenmasken aus Wachs, die im römischen Ahnenkult verwendet wurden.Neben solchen bildhauerischen Werken, welche die im Vorderen Orient und in Ägypten begründeten Traditionen fortsetzten, kannte die Antike auch das Profilporträt des Herrschers auf Siegeln und Münzen. Diese Form diente zum einen als direktes Vorbild für die seit der Renaissance geprägten Bildnismedaillen von Herrschern und berühmten Persönlichkeiten. Zum anderen legte sie - in Ermangelung gemalter antiker Porträts - das frühe Schema der Porträtdarstellung in der Malerei fest, das die Profilhaltung von Kopf und Büstenansatz übernahm. In dieser Gestalt überlebte das Bildnis in der mittelalterlichen Kunst im Stifterbild; doch auch das älteste erhaltene autonome Porträt der Kunstgeschichte, die um 1360 entstandene Darstellung des französischen Königs Johann II., des Guten, verweist mit dem Goldhintergrund und der Profilhaltung noch auf das herkömmliche Münzschema.Im frühen und hohen Mittelalter widersprach die auf das Jenseits ausgerichtete christliche Religion der Wiedergabe des irdischen Menschen und verdrängte das eigentliche Porträt; Darstellungen eines Menschen sind in dieser Zeit Sinnbilder des Amtes des Abgebildeten. In der mittelalterlichen Grabkunst bestand die antike Idee, das Bildnis des sterblichen Individuums über seine Lebenszeit hinaus zu bewahren, jedoch fort. Liegefiguren von Gräbern aus romanischer und gotischer Zeit belegen die Bemühungen, der Nachwelt ein getreues Abbild des Verstorbenen zu überliefern. Das vergängliche Erscheinungsbild eines Menschen bewahrte daneben auch das Stifterporträt, das den Gläubigen in eine heilsgeschichtliche Darstellung einfügte - jedoch in kleinerem Maßstab an untergeordneter Stelle am unteren Bildrand oder sogar außerhalb des Bildgeschehens.Beide Konzepte - das mittelalterliche Grabbild wie das Stifterbild - lieferten neben den antiken Anregungen die gedanklichen und die konkreten künstlerischen Voraussetzungen für die Gestaltung des Menschenbildes in der Neuzeit. Daher ist diese Entwicklung in ihrer frühesten Phase um 1400 geographisch auch nicht an Italien gebunden, wo die Antike zuerst wieder belebt wurde. Vielmehr wird sie zunächst im kulturell in höchster Blüte stehenden Umkreis des französischen und burgundischen Hofes greifbar, wenige Jahre später auch in den wirtschaftlich aufblühenden Städten der Niederlande. Hier entstanden in rascher Folge - zunächst wohl innerhalb dynastischer Bildergalerien - Porträts der Herrschenden, des Adels und des erstarkenden Bürgertums, die sich rasch vom starren Profilschema entfernten und neue Lösungen präsentierten, die dann ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch in Italien aufgegriffen wurden. Dass hierbei die Skulptur der Malerei »fortschrittliche« Lösungen anbieten konnte, belegt das frühe, um 1365 gemalte Dreiviertelportät Rudolfs IV. von Habsburg, das vielleicht von Bildwerken wie Peter Parlers Büsten im Triforium des Prager Doms angeregt wurde.Jan van Eyck, Hofmaler des burgundischen Herzogs Philipp III., des Guten, und Stadtmaler von Brügge, dokumentierte in seinem Œuvre exemplarisch, wie sich das private Individuum im 15. Jahrhundert aus der Bindung in die festgefügte mittelalterliche Ikonographie befreite: In gleicher Größe und in ganzer Gestalt, den Kopf aus dem blicklosen Profil gedreht, kniet der burgundische Kanzler Nicholas Rolin in dem von ihm gestifteten Madonnenbild der Gottesmutter gegenüber. Neben allen Errungenschaften der Malerei van Eycks - der brillanten, fortentwickelten Öltechnik, der Modellierung durch Farben, Licht und Schatten, der wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe von Details und der empirischen Perspektive - ist dieses Bild ein Dokument des neuen Selbstbewusstseins: Der Mensch tritt direkt vor seinen Gott, erlaubt sich persönliche Zwiesprache und bringt sich mit seiner leiblichen, sterblichen Existenz in die bildgewordene sakrale Szene ein.Bereits bei den frühen Niederländern findet sich auch das selbstständige Privatporträt. Dass solchen Bildnissen bürgerlicher Auftraggeber Modellstudien vorausgingen, belegt eine Silberstiftzeichnung Jan van Eycks, die genaue Farbnotizen des Malers für das noch auszuführende Gemälde Kardinal Niccolò Albergatis aufweist. Unbekannt ist dagegen ihre ursprüngliche Funktion. Denn die frühen Privatbildnisse waren zunächst nicht als Raumschmuck gedacht, sondern wurden in eigens angefertigten Behältern aufbewahrt, mit Deckeln verschlossen und nur gelegentlich zum Betrachten hervorgeholt. Ihr Format ist deshalb durchgängig klein. Die Inschrift, die den Namen des Dargestellten, bisweilen seinen Stand, sein Lebensalter, das Entstehungsdatum, gegebenenfalls auch die Signatur des Künstlers überlieferte, befand sich bei den frühen niederländischen Bildern in der Regel auf dem Rahmen, später dann - vor allem im deutschsprachigen Raum - auf dem Bildgrund selbst. Diese Daten, die heute häufig verloren sind, garantierten dem Dargestellten seine Identifikation durch die zeitgenössischen und die späteren Betrachter, sodass der sterbliche Leib im Bild der Nachwelt übermittelt werden konnte. Totenschädel mit mahnenden Inschriften auf den Rückseiten der Bilder stellten dem Auftraggeber und dem Betrachter gleichermaßen die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen. Erst während des 15. Jahrhunderts, als die Kunst durch den Rückgriff auf antike Motive und durch die neuen Themen der Renaissance zunehmend verweltlicht wurde, eroberten auch die Porträts von Privatpersonen die Wände; sie wurden nun zur Repräsentation und Dekoration aufgehängt, aber auch dann noch oft durch Klappdeckel oder Vorhänge vor den täglichen Blicken verborgen.Sich gegenseitig anregend und vorantreibend, entwickelten die Künstler der Renaissance im Norden wie im Süden Europas das ganze Repertoire der Formen, das der Porträtmalerei noch heute zur Verfügung steht. Neben der gängigen Darstellung von Einzelpersonen, Paaren oder Gruppen in Kopf- und Brustbildern (im Profil, im Dreiviertelprofil oder »en face« in frontaler Vorderansicht), als Halb- und Ganzfigur, als Hüft- oder Kniestück, sitzend, stehend oder zu Pferde gab es bis zum 20. Jahrhundert nur noch wenig Raum für originelle Neuerungen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts trat allerdings der die porträtierte Person umgebende Raum an die Stelle des neutralen Bildgrundes; er diente dazu, die physische Präsenz der Figur zu steigern und die Person durch die Gegenstände im Raum zusätzlich zu charakterisieren oder symbolisch zu deuten.So bestimmten etwa pathetische Haltung und Würdezeichen - Säulen, prunkvolle Gewänder und Rüstungen, pompöse Draperien - die Standesporträts des Barock, dessen Repräsentationsbedürfnis im 17. Jahrhundert einen erneuten Aufschwung der Porträtkunst einleitete. Da bis ins 19. Jahrhundert Porträts meist nur wenigen Personen - dem Adel, dem hohen Klerus, den Künstlern selbst, deren Familien und Freunden - vorbehalten blieben, war das Porträtieren die vornehmliche Aufgabe der Maler am Hof: In Rom schuf Bernini Porträtbüsten von Päpsten und Kardinälen, in Frankreich prägten Le Brun, Champaigne und Rigaud das Erscheinungsbild Ludwigs XIV., in England arbeitete van Dyck, in Spanien Velázquez für König und Hochadel des Landes. Scheinbar schlichtere Porträts schufen Frans Hals und Rembrandt für die Bürger Hollands: Indem sie aber die Würdeformen des Herrscherbildnisses in die privaten Porträts übernahmen, stellten sie den persönlichen Erfolg der Dargestellten selbstbewusst zur Schau; im »Portrait historié« ließen sie die Modelle Szenen der antiken Mythologie, der Geschichte oder der Bibel nachspielen.Im 19. Jahrhundert, das durch die Erfindung der Fotografie die Porträtmalerei zumindest im bürgerlichen Milieu teilweise ihrer Arbeitsmöglichkeiten beraubte, wurde dann das Ambiente des Modells durch agierende Personen erweitert, sodass die Porträts begannen, Geschichten zu erzählen. Erst das 20. Jahrhundert, insbesondere die Kunst des Expressionismus, fand dann neue Wege, das Bild des Menschen auszudrücken. Da die Künstler jetzt nicht mehr auf das Modell und dessen Wiedererkennbarkeit verpflichtet waren, konnten sie neben symbolischen oder surrealen Darstellungen sogar zur Abstraktion neigende Formen verwenden, um die Persönlichkeit eines Menschen zu erfassen - was bis heute eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst geblieben ist.Dr. Gabriele Kopp-SchmidtAlpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Aus dem Englischen. Köln 1985.Boehm, Gottfried: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance. München 1985.Schneider, Norbert: Porträtmalerei. Hauptwerke europäischer Bildniskunst 1420—1670. Neuausgabe Köln 1994.
Universal-Lexikon. 2012.